Blickwechsel: Drei Fragen an Petr Borkovec aus Leipzig
Der "Blickwechsel" zwischen Leipzig und Brünn steht im Mittelpunkt des Residenzautorenaustauschs. Daher erzählt in unserer gleichnamigen Reihe jeden Monat eine andere Autorin / ein anderer Autor, wie sie / er die jeweilige Stadt und ihre Menschen erlebt und welche Inspiration dies für die eigene Arbeit bedeuten kann. Im Oktober laden wir ein zum "Blickwechsel" mit PETR BORKOVEC in Leipzig und bitten ihn, uns zu erzählen:
Wenn ich durch Leipzig gehe… halte ich meine Augen geschlossen. Und wenn ich sie öffne, sehe ich eine müde Kellnerin aus dem Restaurant Taparazzi, wie sie auf der Bank hinter dem Restaurant raucht. Die Raucherecke für das Personal befindet sich direkt hinter der Küche, die den Bereich hinter dem Rücken der Kellnerin mit kaltem weißem Licht erleuchtet. Der Ort ist voller Düfte von scharfen Speisen, die sich mit dem Gestank des faulenden Gemüses und mit noch einem anderen bemerkenswerten Gestank vermischen: Das ist wahrscheinlich das Parfüm der Stadt (der abendliche und sommerliche, tagsüber ist es heiß, es ist bereits Herbst, es ist ja schon Ende September). Meine Kellnerin raucht hier immer alleine und die Zigarettenstummel drückt sie am Boden aus, und die Filter wirft sie in die Holzkiste der Tomaten. Ihre Stelle bei den Mülleimern mit einer schweren Bank, die mit einem Tisch verbunden ist, mit den leeren Transportkisten und einem Haufen alter Flugblätter wirkt ein wenig wie ein dreckiger Autobahnrastplatz. Sie raucht zu Ende, setzt sich in ihr Fahrzeug und fährt an einen See. Das tut sie nicht, sie raucht und freut sich schon jetzt auf die nächste Zigarette, die in einer Stunde, in eineinhalb Stunden an die Reihe kommt. Dazwischen wird sie in allen Stilen zwischen den Gästen mit Tellern voller Tapas schwimmen. Eine müde Leipziger Kellnerin. Wir begrüßen uns. Nein, ich lüge, wir begrüßen uns nicht. Aber gestern habe ich daran gedacht, dass wir uns schön grüßen könnten - wir haben uns im vergangenen Monat mindestens zwanzig Mal gesehen.
„Guten Abend.“
„Guten Abend.“
Wenn ich die Menschen in der Stadt beobachte… möchte ich nicht mit ihnen sprechen. Am Freitag auf dem Markt ist es am schlimmsten, man muss ja doch etwas sagen, wenn man ein Kilo Tomaten mitnehmen will. Deshalb kaufe ich nur bei den Arabern – diese reden zwar viel mehr als die anderen Marktverkäufer, aber sie erwarten keine Antwort. Ich kaufe ein Kilo Tomaten und kehre schnell in meine Wohnung in der Reichstraße zurück, wo mich sofort mehrere Sachen umgeben: Liebe und Hunger und Not und Müdigkeit und Nacktheit.
Bei meiner Arbeit in Leipzig inspiriert mich… dass ich am Abend meinen dunkelblauen Anzug anziehe und meine Haare wasche und durch das Zentrum schlendere und beim Streichquartett der Straßenmusikanten, den Geigenspielerinnen und bei den Cellisten und Akkordeontrios anhalte. Ich bleibe nur flüchtig, nachlässig stehen – und stelle mir vor, dass ich ein berühmter, sehr berühmter und reicher Dirigent bin, der morgen ein großes Konzert im Gewandhaus leitet. Der jetzt vor dem morgigen Konzert spazieren geht, ein wenig frische Luft schnappt und noch einmal leicht über die schwierige Passage der morgigen Partitur nachdenkt. Und bei den Straßenkünstlern stehen bleibt und ein wenig zuhört, es gefällt ihm, jedoch nur bis zu dem Maß, dass er sich kurz darauf erneut in seinen Gang und seine Noten vertiefen kann. Ich gehe durch die Stadt und stelle mir vor, dass die Menschen das alles an mir erkennen, dass sie wissen, dass ich es bin – der berühmte, wundervolle morgige Dirigent. Und den Straßenkünstlern zuhören und aus dem Augenwinkel auch mich selbst beobachten und darüber nachgrübeln, was ich mir wohl denke! So spiele ich mit den Menschen, so betrüge ich alle um mich herum (wer weiß, vielleicht rede ich mir das nur ein) und auch mich selbst (das gelingt mir). Dann gehe ich bezaubert schlafen.
In meiner Arbeit inspiriert mich… ein Junge aus der Thomaskirche, der Konzertkarten verkauft und wahrscheinlich auch während des Konzertbetriebes aushilft (vielleicht, ich weiß es nicht). Eigentlich weiß ich nichts, auch nicht, ob es sich noch um einen Jungen handelt (vielleicht ist er schon ein Mann): Er sieht so sonderbar aus, eine Mischung aus Mr. Bean und Tadzio aus dem Tod in Venedig. Auf dem kleinen Finger trägt er einen Ring und seine Mundwinkel sehen ständig so aus, als hätte er Kaffee getrunken.
In der Zeit von August 2018 bis Januar 2019 dürfen wir auf zehn Stipendiaten-Reisen gespannt sein: Fünf deutsche Autorinnen und Autoren besuchen Brünn und fünf tschechische die Partnerstadt Leipzig. Das tschechisch-deutsche Residenzprogramm wird veranstaltet von der Mährischen Landesbibliothek, der Leipziger Buchmesse, den Partnerstädten Leipzig und Brünn, dem Goethe-Institut Prag und der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft mbH. Medienpartner ist die Leipziger Volkszeitung.
Petr Bokovec im Neuen Rathaus. Foto: Felix Abraham