Es geht um Alles: Radka Denemarková im Interview mit „AhojLeipzig2019“
Radka Denemarková, Jahrgang 1968, studierte an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität Germanistik und Bohemistik. Seit 2004 ist sie als freiberufliche Schriftstellerin tätig. Derzeit ist Radka Denemarková Stadtschreiberin in Graz. Sie gehört zu den knapp 60 Autoren und Kunstschaffenden, die zum Gastlandauftritt Tschechiens vom 21. bis 24. März 2019 zur Leipziger Buchmesse anreisen.
AhojLeipzig2019: Sie waren gerade zu Gast beim 1. Europäischen Autoren-Gipfel in Berlin. Was bedeutet Ihnen der Austausch mit anderen Autoren?
Radka Denemarková: Austausch ist in jeder Zeit auf eine andere Weise wichtig. Heute ist es wichtig, dass wir als Autoren Verantwortung für unsere Gesellschaft übernehmen, indem wir uns als Menschen, als Bürger zu Politik und Gesellschaft äußern. Dabei sollten wir nicht nur die positiven Entwicklungen benennen, sondern auch auf die Probleme aufmerksam machen. Wir dürfen das nicht den Populisten überlassen, die komplexe Sachverhalte gern auf einfache Formeln reduzieren. Leider überzeugen sie damit aber die Massen, wie wir beispielsweise beim „Brexit“ vor zwei Jahren gesehen haben. Der Brexit war ein wirklicher Schock für mich, da ich eine überzeugte Europäerin bin. Ich kämpfe für ein demokratisches Europa der offenen Grenzen und möchte auf keinen Fall zurückkehren zur Abschottung meiner Heimat hinter Mauern. Das hatten wir zu genüge. Umso mehr bin ich besorgt, dass es Menschen in Tschechien gibt, die von einem „Czechxit“ sprechen. Allein die Angst vor den wirtschaftlichen Folgen bei einem Austritt Tschechiens aus der EU scheint die Befürworter des Czechxit von der Umsetzung abzuhalten. Fast noch mehr hat mich die fehlende Solidarität der mittel- und osteuropäischen Staaten in der Flüchtlingskrise 2015 geschockt. Offensichtlich möchten sich alle Nationen nur als Opfer der anderen Nationen sehen. Ein ganz anderes Bild geben die 19 Autoren ab, die mit mir zu Gast waren beim Europäischen Autoren-Gipfel. Sie alle wollen ein offenes, vielfältiges und vor allem demokratisches Europa verteidigen. Das macht Mut.
AhojLeipzig2019: Wie können Autoren sich am gesellschaftspolitischen Diskurs Europas beteiligen?
Radka Denemarková: Autoren leisten eine Art Übersetzungsarbeit, indem sie gesellschaftlich relevante Themen anhand konkreter menschlicher Schicksale erzählen und damit zumindest für Leser erlebbar machen. Literatur kann andere Lebensmodelle aufzeigen und beim Leser Mitleid, Empathie oder einfach nur Verständnis für andere Menschen und ihre Lebensweise erzeugen. Im Übrigen ist es nicht die Frage, was wir Autoren tun können. Aus meiner Sicht müssen wir agieren. Es geht doch inzwischen um Alles: Diktatur oder Demokratie, Zensur oder freie Kreativität, Nationalismus oder offene Grenzen, Hysterie oder Toleranz! Wir müssen verteidigen, was wir 1989 in Europa glaubten erreicht zu haben. Außerdem wird jede Tat, die keine Hoffnung auf einen augenblicklichen und sichtbaren politischen Effekt hat, mit der Zeit unsichtbar. Deshalb fühle ich als Mensch, dass wir aus Prinzip handeln müssen, beispielsweise wenn Menschen zu Unrecht eingesperrt werden, nur weil sie sich als Staatsbürger tapfer verhalten haben.
AhojLeipzig2019: In Ihrem 2009 auf Deutsch erschienenen Buch „Ein herrlicher Flecken Erde“ erzählen sie die Geschichte einer Jüdin, die unmittelbar nachdem sie das KZ Auschwitz überlebt hat, in ihrem Heimatort von ihren alten Nachbarn als Deutsche diffamiert und enteignet wurde. Wie kamen Sie auf dieses Thema?
Radka Denemarková: Das Buch hat eine lange Vorbereitungsgeschichte. Den ersten Impuls erhielt ich durch meine Deutschlehrerin. Durch sie entdeckte ich bereits als Jugendliche meine Liebe zur Philosophie und zur deutschen Sprache. Zudem erzählte sie mir, dass über Jahrzehnte Tschechen, Deutsche und Juden auf dem Gebiet der Tschechischen Republik in Frieden zusammengelebt haben. Das haben wir in der Schule nicht gelernt. Dort waren die Deutschen ausschließlich Revanchisten – die Inkarnation des Bösen. Sie befanden sich quasi in guter Gesellschaft mit den Juden, die nach dem 2. Weltkrieg zunächst in den stalinistischen Prozessen der 50er Jahre als Verräter am Kommunismus zum Tode oder zu Lagerhaft verurteilt wurden und später vom Regime als Verursacher des „Prager Frühlings“ 1968 hingestellt und verfolgt wurden. Juden waren die andere Inkarnation des Bösen. Selbstverständlich stand in unseren Schulbüchern nichts über Antisemitismus in Tschechien oder die Leiden der Vertriebenen nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Ich finde aber, man muss sich mit der ganzen Wahrheit auseinandersetzen. Deshalb wollte ich die Geschichte einer Frau erzählen, die doppelt ausgegrenzt wurde. Erst sollte sie als Jüdin in den Lagern ermordet werden und dann als Deutsche von ihrem Haus und Hof gejagt werden. Dabei leitete mich durch das Buch immer wieder die Frage: Wie kann man das überleben und Mensch bleiben? Vor allem, wenn die Täter nie zu ihrer Tat stehen. Im Gegenteil, sie sehen sich ja selber als Opfer, die gar nicht anders handeln konnten. Die Opfer der Nazidiktatur rechnen sich ihr „Opfertum“ gegenseitig auf, anstatt unter einander solidarisch zu sein. Ich beabsichtigte keine bloße Rekonstruktion exakter historischer Vorgänge, vielmehr versuchte ich, allgemeingültige Dimensionen menschlicher Abgründe zu verdeutlichen. Der Roman geht der Frage nach, ob die Wahrheit den Menschen zumutbar ist und sprengt dabei die gängige Täter-Opfer-Polarität.Zentral für den Romanaufbau ist die Wende von 1989, die der Protagonistin Gita Lauschmannová eine Reise in die Vergangenheit ermöglicht, die zugleich ein Tabu-Thema der neueren tschechischen Geschichte eröffnet: die doppelte Verfolgung der jüdischen MitbürgerInnen im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist das sprichwörtliche Graben nach Leichen im Keller. Ich muss den Schmerz zeigen, nicht heilen, ich bin der Schmerz, nicht die Ärztin.
AhojLeipzig2019: Wie hat denn das Publikum in Tschechien bzw. in Deutschland auf das Buch reagiert? Gibt es Unterschiede in der Rezeption in den beiden Ländern?
Radka Denemarková: Ja, absolut! Jeder will nur den Teil der Geschichte hören oder lesen, indem er bzw. seine Nationalität Opfer ist. Die unterschiedliche Rezeption beruht also letztlich auf der Gemeinsamkeit des Schwarz-Weiß-Denkens: Ich Opfer – du Täter.
AhojLeipzig2019: Antisemitismus ist in Deutschland seit einigen Monaten wieder ein großes Thema. Wie sieht das in Tschechien aus?
Radka Denemarková: Es ist kein großes Medienthema. Bei uns schleicht sich der Antisemitismus eher auf leisen Sohlen über die Sprache ein. So können Sie in immer mehr Artikeln über Personen des öffentlichen Interesses lesen, dass sie jüdischer Herkunft sind. Das hat man noch bis vor wenigen Jahren für nicht erwähnenswert gehalten. Besonders perfide war die Veröffentlichung einer Liste mit den Namen jüdischer Familien auf dem Portal der rechtsradikalen Partei Svoboda a přímá demokracievon Tomio Okamura, die der Front Nationalvon Marine Le Pen sehr nahesteht und zu den Holocaustleugnern zählt. Aber auch der gegenwärtige tschechische Ministerpräsident Babiš macht heute rassistische Bemerkungen über Roma in den Konzentrationslagern. Diese Details zeigen, dass, obwohl kaum noch jüdische Mitbürger in der Tschechischen Republik wohnen, der Antisemitismus nicht nur aktuell ausgelebt, sondern immer offener artikuliert wird. In pessimistischen Momenten denke ich, der Antisemitismus ist das einzig wirklich verbindende Element in Europa.
AhojLeipzig2019: Zur Leipziger Buchmesse 2019 werden Sie im Rahmen des Gastlandauftritts Tschechien Ihr neuestes Werk vorstellen. Worum geht es in dem Buch?
Radka Denemarková: Das Buch dreht sich um die Themen Nationalismus und sexualisierte Gewalt. Ich bin davon überzeugt, dass beides zusammenhängt. Denken Sie nur an die Massenvergewaltigungen in den Balkankriegen der 90er Jahre, um nur ein Beispiel zu nennen. Erzwungener Sex ist ein Verbrechen und Mord an der Seele der Vergewaltigten. Insofern steht jede einzelne Vergewaltigung auch metaphorisch für das 20. Jahrhundert – einem Jahrhundert voller Vergewaltigungen einzelner aber auch ganzer Staatengemeinschaften. Diese individuellen wie kollektiven Erfahrungen prägen uns alle bis heute. Deshalb stehen in meinem 2014 in Tschechien erschienenen Buch drei starke Frauen im Mittelpunkt, die sich gegen Nationalismus und sexualisierte Gewalt wehren. Da sie die Gesetze nicht zu ihrem Schutz ändern können, finden sie ihren eigenen Weg, sich zu verteidigen. Über allem schweben als metaphorische Ebene Schwalben, die Begriffe wie Nation, Glaube oder Gewalt nicht kennen und die Welt von oben betrachtet nicht verstehen. Beim Schreiben des Buches, das in Frühjahr 2019 bei Hoffmann und Campe unter dem Titel „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ erscheint, haben mich vor allem zwei Fragen bewegt: Wann hat es angefangen, dass Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden und, ab wann haben sich in den Nationen die verschiedenen Mentalitäten entwickelt. In Europa gab es eine Menge geschädigter Frauen und Männer, welche schwiegen. Das Problem des 20. Jahrhunderts ist das Problem der Opfer. Die Illusion, dass das Unglück den Menschen vermenschlicht, zerbricht definitiv.
AhojLeipzig2019: Welche Erwartungen haben Sie an den Gastlandauftritt Tschechiens zur Leipziger Buchmesse?
Radka Denemarková: Seit der Gründung des tschechischen Staates 1918 haben Kunst, Kultur und Literatur eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des kulturellen Bewusstseins gespielt. Ich möchte daher in Leipzig die Gelegenheit nutzen, die Aufmerksamkeit auf die vielschichtige tschechische Kultur und Literatur der letzten 100 Jahre zu lenken, die gerade in ihrer Vielfältigkeit die Nation verbindet. Natürlich sollten wir dabei auch den Blick auf den „Prager Frühling“ oder die „Charta 77“ lenken. Beide Ereignisse waren nicht nur für uns Tschechen, sondern für ganz Europa Meilensteine auf dem Weg zu einem offenen, demokratischen Europa. Letzteres verteidigen viele meiner Kollegen in der Tschechischen Republik Tag für Tag. Auch das würde ich gern dem Publikum in Leipzig vermitteln. DerKampf um Freiheit, um die Möglichkeit, frei und kritisch denken und leben zu dürfen, war zu jeder Zeit schwierig und endet nie.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
Foto: ©Bertelsmann | Stefan Maria Rother