Fünf Paten – drei Fragen – Fünf Perspektiven: heute mit Patin Radka Denemarková
Auf dem Leipziger Messegelände, vor allem am tschechischen Stand in Halle 4, finden zum Gastlandauftritt Tschechiens auf der Leipziger Buchmesse (21. bis 24. März 2019) jeden Tag Lesungen und Diskussionen unter einem bestimmten Thema statt, für das jeweils ein tschechischer Schriftsteller Pate steht. Zusätzlich läuft über alle vier Tage hinweg das Programm mit Kinder- und Jugendbüchern sowie Comics in der Halle 2. Dort finden unter der Patenschaft von Iva Procházková und Petr Sís Lesungen und kreative Workshops statt.
Patenprogramm:
- am 21. März: „Literatur im Ausnahmezustand“ mit Patin Radka Denemarková,
- am 22. März: „Aufbruch und Wandlung - Generation 89“ mit Pate Jaroslav Rudiš,
- am 23. März: „Krisenzeiten? - Europa heute“ mit Pate Jiří Přibáň,
- am 24. März: „Literatur der Beunruhigung“ mit Pate Tomáš Glanc,
- vom 21. bis 24. März: „Kinder- und Jugendbuchliteratur sowie Comics“ mit Patin Iva Procházková und Petr Sís
Radka Denemarková, was hat Sie dazu motiviert die Patenschaft für das Thema „Literatur im Ausnahmezustand“ zu übernehmen?
Die Tschechische Republik hat dank ihren Politikern einen sehr schlechten Ruf, befindet sich quasi im Ausnahmezustand. Das Land hat aber auch andere Seiten, auf die wir stolz sein können: Literatur, Kunst, Mut, die Traditionen von Franz Kafka und Václav Havel…
Wieso hat Sie gerade dieses Thema gereizt?
Weil es dabei um die zentrale Frage geht, die mich persönlich, aber auch viele andere quält: Wollen wir eine geschlossene Gesellschaft oder eine offene Demokratie, Totalitarismus oder Freiheit? Ich lebe in einer Zeit, in der etwas Grundsätzliches zerbricht und sich ändert. Unter mir spüre ich eine tektonische Verschiebung der Erde. Nehmen wir zum Beispiel China, das Land wächst zusammen, während Europa zerfällt: In China sind der Kommunismus und der Kapitalismus eine unheilige Allianz eingegangen, die wirtschaftlich funktioniert, weshalb die ganze Welt insgeheim China beneidet. Aber was macht der ökonomische Pragmatismus mit der menschlichen Seele? Und warum bewundert die Welt die neue Gestalt des Totalitarismus? Wo das Geld spricht, schweigt die Wahrheit? Die Welt dreht sich im Wirbel der Zensur und Selbstzensur. Solidarität und Humanismus geraten in Vergessenheit. Die Literatur befindet sich im Ausnahmezustand und ich hoffe, dass sie auf künstlerische Art und Weise die Krankheiten unserer Zeit benennen und uns warnen kann. Wir brauchen allerdings eine neue Sprache. Ich glaube nicht an die Konstrukte der Historiker und Politiker. Die Wahrheit über diese Welt kann nur ein Roman erzählen.
Welche Impulse sollte das Gastland Tschechien auf der Leipziger Buchmesse der tschechischen Literaturszene bringen?
Das lässt sich nie planen und abschätzen. Hoffentlich wird den Tschechen endlich bewusst, dass Meinungsfreiheit die Basis der Menschenrechte, die Wurzel der Menschlichkeit, die Mutter der Wahrheit ist. Die freie Sprache in Tschechien zu behindern, ist als würde man die Menschenrechte mit Füßen treten, die Menschheit würgen und der Wahrheit im Weg stehen. Ich hoffe, uns wird bewusst, dass wir ein Teil der Menschheit sind. Die Literatur ist eine Welt für sich, eine Gemeinschaft von Menschen, die keine Angst vor dem Risiko hat und die nicht einen Schritt von ihren Überzeugungen zurückweicht, sondern – mit einer kompromisslosen Kenntnis der Zusammenhänge – bis zum Äußersten gehen. Es ist eine Parallelwelt, welche Hoffnung bietet!
Über Radka Denemarková
Radka Denemarková, geboren 1968, ist Autorin, Dramatikerin, Drehbuchautorin, Essayistin und Übersetzerin deutscher Literatur und lehrt Creative Writing. Als einzige tschechische Autorin ist sie dreifache Preisträgerin des Magnesia Litera Preises (in den Kategorien Prosa, Sachbuch und Übersetzung, unter anderem 2011 für ihre Übersetzung des Romans „Atemschaukel“ von Herta Müller). Sie studierte Germanistik und Bohemistik an der Karls-Universität und promovierte 1997. Sie forschte am Institut für Tschechische Literatur der tschechischen Akademie der Wissenschaften und war als dramaturgische Beraterin am Theater Divadlo Na Zábradlí in Prag tätig. Auf Deutsch erschien u.a. „Ein herrlicher Flecken Erde“ (DVA 2011) und im Februar 2019 ihr Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“ (Hoffmann und Campe). Radka Denemarkovás Werke wurden in rund 20 Sprachen übersetzt.
· "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude", übers. v. Eva Profousová, Hoffmann und Campe, Februar 2019
Foto: Milan Malíček