Magdalena Šipka: Interview während der Residenz

Den Oktober 2021 verbrachten Sie als Residenzautorin in Leipzig, der Partnerstadt der Mährischen Landeshauptstadt Brno – an welchen Moment ihres Aufenthalts erinnern Sie sich am liebsten?

Von meinem einmonatigen Aufenthalt habe ich natürlich nicht nur eine bestimmte Erfahrung mitgenommen. Vielmehr war es ein ganzes Mosaik von Erfahrungen, eine Begegnung mit einer neuen Stadt, einem Land, das ich schon von früher kannte, aber nun auf eine neue Art und Weise kennenlernte. Ich genoss die Radtouren an die nahe gelegenen Seen, den gepflegten Radweg nach Halle und die freundliche Bedienung überall. Ich fühlte mich mehr mit der Natur verbunden als in Prag. Insgesamt habe ich Leipzig als eine nachhaltigere Stadt wahrgenommen - sowohl in ökologischer als auch in sozialer Hinsicht. Ich erinnere mich an einen Spaziergang durch den Clara-Zetkin-Park, bei dem mir eine einheimische Literatin erzählte, dass all die Dinge, die ich an Leipzig bewunderte - zum Beispiel die Nähe zur Natur, eine Stadt, die auf das Radfahren oder Spazierengehen ausgelegt ist, erschwinglichere nachhaltige Lebensmittel oder Kleidung - von den Einheimischen eher als etwas Unzureichendes, als eine Art Ausrede betrachtet werden. Nichtsdestotrotz hat mich eine gewisse Verschiebung hin zu dem, was ich wahrscheinlich als eine stärker vernetzte Gesellschaft bezeichnen würde, eine Zeit lang davon überzeugt, dass ein gewisser Wandel möglich ist. Ich war von der Hoffnung erfüllt, dass sich die Gesellschaft in Richtung mehr Demokratie verändern wird. Am stärksten spürte ich diese Hoffnung während der Feierlichkeiten des Falls des Eisernen Vorhangs, die Anfang Oktober in der Stadt stattfanden.

 

Ein Monat Zeit sich nur auf das Schreiben zu konzentrieren ist eine einzigartige Gelegenheit. Sie arbeiteten während Ihrer Zeit in Leipzig an Ihrem neuen Roman. Konnte die Stadt Sie dabei inspirieren?

Die Stadt hat mich natürlich inspiriert. Das Alleinsein weckt in mir im Allgemeinen eine größere Fähigkeit, meine Umgebung wahrzunehmen. Es öffnet meine Sinne, die sonst vor lauter Arbeit und zwischenmenschlicher Hektik schläfrig sind. Ich war mir der Menschen, die an mir vorbeigingen, bewusster, der unterschiedlichen Architektur, und ich musste mehr darauf achten, was ich sagte und wie ich mit den Leuten kommunizierte, wozu mich nicht zuletzt die Sprachbarriere zwang. Mit der Stadt, ihren Straßen, ihren Bäumen, ihren Menschen - mit allen habe ich versucht, mit offenen Sinnen einen Dialog herzustellen. Dieser hat begonnen, und ich hoffe wirklich, dass ich ihn fortsetzen kann.

 

Sie sagten in einem Interview, dass ein Residenzaufenthalt dazu beitragen kann Energie zu schöpfen und gestärkt zurückzukehren. Wie erlebten Sie die Zeit unmittelbar nach Ihrer Rückkehr aus Leipzig?

Glücklicherweise war ich gleich nach meiner Ankunft nicht nur mit der Arbeit beschäftigt, sondern ich hatte auch einen Aufenthalt mit meiner Mutter in Poděbrady eingeplant. Gemeinsam erinnerten wir uns zurück an die Frauen in unserer Familienlinie, wir sahen alte Fotos und die Tagebücher meiner Großmutter durch, wir sprachen. Ich dachte an meine Großtante, die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ein Kind aus einem Waisenhaus adoptierte, doch dann starb ihr Mann und sie blieb allein zurück. Meine Großtante, die eine der ersten war, die sich scheiden ließ. An meine Urgroßtanten, die als fünf Schwestern allein gelassen wurden, als viele Männer ihrer Generation in den Weltkriegen starben. Später verloren sie den Familienbesitz und kümmerten sich um meine Mutter und ihre Geschwister. Sie hatten unterschiedliche Rollen unter den fünf Schwestern aufgeteilt. Františka hieß zum Beispiel Pepa und kümmerte sich hauptsächlich um das, was wir als männliche Angelegenheiten bezeichnen würden. Geschichte wird für uns manchmal als eine einzige, unveränderliche Tradition übersetzt, in der die Dinge auf eine bestimmte, eindeutige Weise funktionieren. Doch wenn wir uns näher mit der Vergangenheit - und mit unseren eigenen Familien - befassen, entdecken wir manchmal die unerwartete Vielfalt und Unvorhersehbarkeit des Lebens.

Der Übergang war für mich also nicht so abrupt. Ich bin bei den Geschichten geblieben. In Tschechien gibt es sicherlich viele stille Orte, die zur Bewunderung und Erholung einladen. Manchmal muss man sich einfach öffnen.

 

Was bedeutet der interkulturelle Austausch für Sie und Ihre Arbeit? Welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der beiden Nachbarländer Deutschland und Tschechien konnten Sie besonders in Ihre Arbeit einfließen lassen?

Deutschland war für mich als junge Aktivistin anfangs ein Traumland. Ich habe hier eine Menge radikaler Ideen wahrgenommen, die in der Tschechischen Republik nicht so weit verbreitet sind. Später lernte ich auch andere Teile davon kennen, andere Teile der Gesellschaft, eine gewisse Fähigkeit, Regeln anzuwenden und auf deren Einhaltung zu bestehen. Wenn ich an einen Slogan aus der Flüchtlingskrise denke, dann sind die Deutschen einfach daran gewöhnt, "es zu schaffen". Natürlich gibt es auch hier soziale Probleme, die den unseren sehr ähnlich sind, nur meist in geringerem Maße. Zugleich sind wir in gewisser Weise voneinander abhängig. Viele tschechische BürgerInnen arbeiten in Deutschland zu besseren Löhnen, aber manchmal verrichten Ausländer hier sehr anspruchsvolle Arbeiten, für die sie nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn bekommen. Die deutsche Solidargemeinschaft beruht auch weitgehend auf einer gewissen wirtschaftlichen Überlegenheit gegenüber dem Rest der Welt.

Während meines Aufenthalts habe ich vor allem die Veränderungen in der deutschen öffentlichen Debatte über verschiedene Arten von Beziehungen untersucht. Vor allem über die Polyamorie, mit der ich mich seit langem beschäftige, die ich auch lebe, und bei der ich gewisse Veränderungen in der Sichtweise auf diese Lebensweise in der Gesellschaft beobachte. Das wird sich wahrscheinlich auch in meiner Arbeit widerspiegeln, denn ich kann einfach nicht aufhören, über Beziehungen und Liebe zu schreiben. Ich werde es wahrscheinlich aber erst mit 40 wagen, die Gesellschaft im Allgemeinen zu analysieren.

 

Das neue Jahr steckt noch in den Kinderschuhen – welche Projekte möchten Sie 2022 unbedingt voranbringen und hat Ihr Residenzaufenthalt Ihnen dabei helfen können?

In den letzten Jahren habe ich wieder gelernt, wie man Prosa schreibt. Den Schlüssel zu diesem Wandel lieferte Audre Lorde, die in ihren kürzlich im Verlag „Tranzit“ auf Tschechisch erschienenen Essays die Poesie als eine bestimmte Form beschreibt, die am einfachsten zu erreichen ist. Gedichte können in der Tat bei einer U-Bahnfahrt ins Handy, an den Rändern von Heften oder Schulbüchern geschrieben werden. Es ist eine Form, die sogar für die prekäre Klasse zugänglich ist, für Studentinnen, die bis spät in die Nacht in Bars arbeiten. Dank der Unterstützung durch Stipendien bin ich in der Lage, Prosa zu schreiben, für die man sich mehr hinsetzen, planen und ausarbeiten muss. In Leipzig habe ich begonnen, meinen ersten klassischen Prosa-Roman zu schreiben, der hoffentlich mein zweiter sein wird, der erste taumelt noch irgendwo an der Grenze zwischen Lyrik, Essays, Tagebucheinträgen. Aber ich habe auch in Leipzig Tagebucheinträge geschrieben. Und ich berührte dabei auch die grüne Spiritualität, über die ich in diesem Jahr ebenfalls ausführlicher schreiben möchte.

 

Das Interview mit der Autorin Magdalena Šipka wurde von Theresa Clauberg geführt.

 

Foto: Ondřej Lipár

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