Literarische Stimmen aus der Nachbarschaft entdecken – Schriftsteller, Verleger und Veranstalter im Gespräch über zeitgenössische tschechische Literatur
Welche Themen treiben Tschechiens Autoren und Intellektuelle 30 Jahre nach der Wende um? Wie setzen sie sich mit der Geschichte und den aktuellen Strömungen in ihrem Land auseinander? Wie ist der Blick der Deutschen auf den Nachbarstaat und die gemeinsamen Resonanzräume geprägt?
Diesen Fragen spürten im Anschluss an die Programmvorstellung des Gastlandes in der Botschaft der Tschechischen Republik in einer Podiumsdiskussionen die beiden deutschen Schriftsteller Bettina Hartz und Martin Becker sowie der tschechische Verleger Miroslav Balaštík und der Programmkoordinator des Gastlandes Tschechien auf der Leipziger Buchmesse, Martin Krafl, nach. Dr. Anneke Hudalla von der Europäische Akademie Berlin, moderierte das Gespräch.
Der Schriftsteller Martin Becker, Autor von „Gebrauchsanweisung für Tschechien und Prag“ gilt als ‚Mittler zwischen den Kulturen‘ und wichtige intellektuelle Stimme in Deutschland zum Thema Tschechien und deutsch-tschechische Nachbarschaft. In Berlin lobte er die tolle junge Autorengeneration Tschechiens, die vor allem das Alltagsleben in Tschechien in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen stelle. Als Beispiele nannte er die Autorin Tereza Semotamová und ihr im März auf Deutsche bei Voland & Quist erscheinendes Buch „Im Schrank“. Zudem gebe es viele gemeinsame Erzähler wie Franz Kafka, auf den sich auch sein neues Buch „Warten auf Kafka“ beziehen werde. Das ganze Land stecke voller Geschichten und sei die reine Poesie. Nur leider sei die Aufmerksamkeit in Deutschland für neuere tschechische Literatur noch zu gering.
Das solle sich mit dem Gastlandauftritt in Leipzig nachhaltig ändern, wie Martin Krafl betonte. Gefragt nach der politischen Haltung der tschechischen Autoren der jüngeren Generation, antworte er: „Die Haltung ist eindeutig weltoffen und pro Europa“.
Miroslav Balaštík, Chefredakteur des tschechischen Literaturmagazins und gleichnamigen Verlags „Host“ ergänzte, dass viele junge Autoren in Tschechien ihre Stimme laut für ein demokratisches und weltoffenes Land erheben würden. Dazu zählen auch Autorinnen aus seinem Hause, die in Leipzig ihre Bücher vorstellen: Bianca Bellová, Radka Denemarková und Kateřina Tučkova. Er hoffe sehr, dass auch in Deutschland die Bestseller-Qualitäten dieser jungen literarischen Stimmen entdeckt würden, zumal sie auch historische Themen in ihren Romanen aufgreifen würden, die für Deutsche wie Tschechen von Bedeutung seien.
Bettina Hartz schwärmte in Berlin von ihrer Zeit als Residenzautorin in Brünn. Die Stadt sei wunderschön und inspirierend und dennoch kaum bei uns bekannt. Die Schriftstellerin, die ebenfalls zur Leipziger Buchmesse anreisen wird, ist 2018/19 außerdem Kuratorin Veranstaltungsreihe zum „Prager Frühling und den Folgen im Osten bis 89“ am Literaturhaus Berlin. Vom Prager Frühling seien Impulse für ganz Europa ausgegangen. Daneben seien die Jahre um die Gründung der Tschechoslawakei für Deutschland und Tschechien von großer Bedeutung, weil viele der in der Tschechoslawakei lebenden Schriftsteller wie Gustav Meyrink, Franz Kafka oder Rainer Maria Rilke und Franz Werfel beide Länder bis heute geprägt hätten.
Foto: Dirk Bleicker